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Lewin – Gewohnheit

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Lewin – Gewohnheit

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Keine Macht der Gewohnheit

Die größte Herausforderung der lewin’schen Psychologie, jedoch auch die, die am fruchtbarsten für die Praxis ist, ist seine Kritik am Begriff der »Gewohnheit«. Gewohnheit in Frage zu stellen, scheint aberwitzig, ist doch deren Macht sowohl in der Alltagstheorie wie in der Psychologie und in therapeutischer oder beraterischer Hinsicht ein nahezu universell einsetzbares Instrument der Analyse zur Erklärung des Nichtgelingens von Veränderungswünschen.

Und doch ist die Kritik der Gewohnheit der Ausgangspunkt von Lewins eigener Theoriebildung und die Geburtsstunde lewin’scher topologischer und hodologischer Feldtheorie.1

Als Lewin begann, sich mit Psychologie zu beschäftigen und seine Doktorarbeit zu planen – das war mitten während des ersten Weltkriegs –, herrschte der sogenannte Assozianismus in der sich gerade erst formierenden psychologischen Wissenschaft vor. Der Assoziationismus ging davon aus, dass sich alle innerpsychischen Vorgänge durch die Begriffe der Häufigkeit ihres parallelen oder sukzessiven Vorkommens erfassen und erklären ließen: Kausalität sei etwas, das zumindest psycho­logisch betrachtet häufig zusammen oder nacheinander stattfinde. Zwischen diesen häufig zusammen oder nacheinander stattfindenden Ereignissen werde eine »Assoziation« her­gestellt und daraus die Erwartung abgeleitet, auch in Zukunft werde das eine dem anderen folgen. Mithin fiele Kausalität mit der Gewohnheit zusammen.2

Der Form des Assozialionismus, für die Lewin sich begeisterte, vertrat Naziß Ach (1871-1946), der sich bereits ein ganzes Stück aus dem klassischen Assoziationismus heraus bewegt hatte und der Gestaltpsychologie zugerechnet wird. Ach beobachtete, dass Menschen durchaus in der Lage seien, gegen ihre Gewohnheit zu verstoßen und etwa die gewohnte Handlungsfolge von (a) zu (b) zu unterlassen und der Handlung (b) eben nicht (a) folgen zu lassen. Die Kraftanstrengung, um von der Gewohnte abzulassen, nannte er »Willen«. Es musste also möglich sein, durch Experimente den »Willen« zu testen, nämlich die Aufwendung von Energie zu messen, die nötig ist, um die unwillkürliche Tendenz zu unterdrücken, das Gewohnte zu tun (etwa zum Essen Wein zu trinken oder sich nach dem Essen eine Zigarette anzuzünden, auf dem Nach­hauseweg die gewohnten Straßen einzuschlagen etc.).

Lewin machte sich nun daran, ein Forschungsdesign zu entwerfen, um Achs Theorie in experimentelle Situationen um­zusetzen. Er ließ die Probanden sinnlose Silbenfolgen erlernen und aufzuschreiben. Dann forderte er die Probanden nach ­unterschiedlicher Dauer der Einübung auf, die Silbenfolgen zu variieren.

Die aus dem Assoziationismus in Achs Version abzuleitenden Vorhersagen lauteten für dieses Experiment:

  1. Je länger die Silbenfolgen eingeübt werden, um so geringer ist die Fehlerhäufigkeit.
  2. Je länger die Silbenfolgen eingeübt werden, um so schwerer fällt es, die Abänderung durchzuführen.

Vier Jahre lang forschte und dokumentierte Lewin seine Versuche und jede Forschungsreihe enttäuschte aufs Neue seine Erwartungen. Es stellte sich nämlich Folgendes heraus:

  1. Die Fehlerhäufigkeit nahm mit der Dauer der Einübung nicht kontinuierlich ab; nach einer gewissen Dauer nahm sie vielmehr zu. Diesen Effekt nannte Lewin »(psychische) Sättigung«. Die Zunahme der Fehler in den gewohnten und eingeübten Routinehandlungen konnte zwar einfach sich um körperliche Ermüdung handeln, vor allem jedoch war sie auf Überdruss zurückzuführen. Lewin stellte nämlich fest, dass ein Proband, der ab einem gewissen Punkt gar nichts mehr »auf die Reihe kriegte«, nach einer Unterbrechung oder in einer neuen Situation die Silbenreihen wieder völlig korrekt reproduzierte. Zum Beispiel forderte er den Probanden auf, die Zettel, auf denen er seine Silbenfolgen notiert hatte, in ein Kuvert zu stecken und es mit der Silbenfolge zu beschriften, damit er es später der ent­sprechenden Versuchsreihe zuordnen könne. Bei dieser Beschriftung kam es zu fast keinerlei Abweichungen, denn den Probanden war klar, dass ein Fehler der Beschriftung zu einem Fehler bei der Auswertung des Versuchs führen würde. »Sättigung« lässt sich im Alltag gut beobachten. Selbst Tätigkeiten, die man gerne tut, werden nach einer Weile »langweilig«. Routinetätigkeiten können bei nachlassender Konzentration im Chaos enden (besonders bei Tätigkeiten wie etwa dem Autofahren oder dem Führen von Maschinen kann dies in katastrophale Wirkungen münden). Andererseits kann man, auch wenn man von ­einer Tätigkeit sich völlig »übermüdet« fühlt, dann wieder konzentriert tätig werden, sobald man etwas anderes tut und zum Beispiel eine interessante Tätigkeit aufnimmt. Die Entdeckung der »Ermüdung« war der entscheidende Schlag gegen den klassischen Assoziationismus.
  2. Die Abänderung des Eingeübten ist jederzeit ohne Einfluss der Dauer, mit der die Einübung vorgenommen wurde, völlig ohne jede (Kraft-, Willens-) Anstrengung möglich. Dies war der entscheidende Schlag gegen Achs Willens­psychologie. Der spontane Einwand gegen das lewin’sche Experiment mit dem Assoziationismus lautet meiner Erfahrung nach stets: Klar, wenn es sich um sinnlose Silbenfolgen handelt, kann sich auch keine Gewohnheit herausbilden, an der festzuhalten sich lohnt und von der zu lassen eine (Willens-) Anstrengung kostet. Und genau das ist der Punkt von Lewin (und der Gestaltpsychologie in der Form, in der er sie entwickelte und vertrat): Es ist nicht die Auf­einanderfolge von irgendwas, das zu dem alltagssprachlich »Gewohnheit« Genannten führt, sondern (zum Beispiel, unter anderem) der Sinn dessen, was man hintereinander macht.

Es ist entscheidend festzuhalten, dass Lewins Kritik der Gewohnheit keine Nebensächlichkeit darstellt, sondern in das Zentrum seiner Theorie führt. Seine beiden Hauptsätze der psychischen Dynamik, Gegenwärtigkeit und Gerichtetheit, sind direkte Folgerungen aus seinen ersten Experimenten (die er und seine Schüler und Mitarbeiter mit weiteren Experimenten untermauerte): Entscheidend ist nicht die Gewohnheit, also das historische Hintereinander von bestimmten Ereignissen oder Tätigkeiten, sondern das, was die Ereignisse oder Tätigkeiten im gegenwärtigen Feld beeinflusst: von seiten der Person sind das die gegenwärtigen Bedürfnisse und Strebungen (der Sinn und das Ziel des Tuns: dessen Gerichtetheit); von seiten der Umgebung sind das Störungen und Widerstände (Gegenkräfte) sowie Hindernisse (Barrieren).

Was nun ist mit all den Tätigkeiten, bei denen (angeblich) eine lange »Gewohnheit« eine (angeblich) gewollte Veränderung verhindern, sei es das Rauchen, sei es eine bestimmte Routine am Arbeitsplatz. Wenn wir diese Fälle untersuchen, sehen wir mit der Kritik der Gewohnheit Lewins als Brille, dass der Begriff der »Gewohnheit« eine Rationalisierung ist, um über die Gründe nicht sprechen zu müssen, welche gegen eine Abänderung des Gewohnten sprechen: um keine Auskunft über sie geben zu müssen. Die Gründe für das Festhalten an der angeblich unveränderlichen Gewohnheit fallen formal unter zwei Kategorien:

  1. Das Gewohnte ist für den Handelnden sinnvoll. Die Aufforderung, es zu ändern, kommt von außen; und sie wird vom Handelnden als nicht sinnvoll wahrgenommen.
  2. Die Alternative zum Gewohnten bringt irgendwelche Beschwerlichkeiten oder andere Nebenwirkungen mit sich, die der Handelnde nicht bereit ist, zu (er-) tragen.

Die Gründe (Sinn-Unsinn oder Beschwerlichkeit) sind jedoch nicht diskutierbar (etwa weil es sich bei der Person, die die Veränderung initiiert, um eine Autorität oder um jemanden handelt, der institutionell mit Macht ausgestattet ist). Es kann sich jedoch auch um einen eher innerpsychischen Vorgang handeln. Jemand, der mit dem Rauchen aufhören oder der Abnehmen möchte, möchte dies allerdings erreichen, ohne Beschwerlichkeiten und Nebenwirkungen zu dulden.

Egal, ob es nun um therapeutisch begleitete Veränderungs­prozesse einer Einzelperson oder um Veränderungsprozesse in Unternehmen handelt, die ein Berater oder Coach begleitet, Lewins Kritik der Ganzheit hat eine wichtige und heilsame Wirkung: denn sie setzt an die Stelle der Ausrede und der Vermeidung (Deflektion) mit Hilfe der Behauptung, das Gewohnte ließe sich nicht ändern, die Erkundung der Gründe, die gegen eine Veränderung des Gewohnten sprechen.

  1. Als Topologie bezeichnet Lewin die bildlich-räumliche Darstellung der in einem Feld wirkenden psychischen und sächlichen Kräfte und als Hodologie (ein von ihm geprägtes Kunstwort) die Darstellung der Wirkrichtungen der Kräfte durch Pfeile (Vektoren; alternativ auch Vektorpsychologie) bzw. deren Behinderung durch Barrieren und die aus diesen folgende Tendenz der Umgehung. Da die Pfeile, Barrieren und Umgehungen in die topologische Darstellung eingezeichnet werden können, hat eine solche Unterscheidung in der Praxis keine weitere Bedeutung
  2. Philosophisch geht der Assoziationismus auf David Hume (1711-1776) zurück, für den Kausalität nichts als Aberglaube war.

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